DozentSein: "Das ist hier aber alles anders als im Unterricht" - Herausforderung Lernende und klinische Ausbildung.
Im Laufe der Jahre als Lehrphysiotherapeutin durfte ich eine Menge Lernender betreuen. Ich sah viele Einrichtungen und Überzeugungen erfolgreichen Arbeitens. In Praxis, Rehabilitationszentrum und Klinik. Hier teile ich die zweite Gesichte, die stellvertretend für viele Erlebnisse steht. Namen und Lernende sind frei erfunden. Doch sie stehen für bestimmte Typen von Lernenden, mit denen wir in der Lehre zu tun haben.
Auch diese Geschichte zeigt, warum Lernende und klinische Ausbildung zu suboptimalem Outcome in der Physiotherapie führen können und wie Herausforderungen von uns Dozenten reflexiv genutzt werden können...
Derrick steht bereits in der Praxis-Ambulanz des Versorgungszentrums, welches ich heute bei der Betreuung besuche. Durch eine Verzögerung bei der vorherigen Nachbesprechung einer Vorbehandlung komme ich zehn Minuten später.
Derrik begrüsst mich vorwurfsvoll mit den Worten: „Ich habe schon die ganze Zeit auf Sie gewartet!“ Den Unterton versuche ich zu ignorieren. Auf mein Nachfragen, wie es ihm im Lernprozess geht, zuckt er mit den Schultern. „Naja, passt schon. Ich mach eher so mein Ding – hab so fünf Patienten am Tag und zwei Gruppenbehandlungen. Das mit dem Zuschauen bringt mir ja eh nicht so viel. Die machen hier immer dasselbe und ganz anders, wie wir das gelernt haben.“
Von seiner Anleiterin weiß ich, dass er sich nicht gerade um Anleitung seiner Betreuer und eigene Kontrolle bemüht und immer recht früh fertig ist. Man sieht ihn auch mal gerne mit dem Mobiltelefon im Aufenthaltsraum sitzen oder mit einer anderen Praktikantin beim Rauchen.
Auf die Frage nach seiner heutigen Behandlungsstrategie antwortet er mir selbstbewusst: „Ich werde heute Lymphdrainage machen. Danach eine Faszientechnik für den Gastrocnemius. Und natürlich Übungen, die den Patienten echt mal fordern. Der Patient ist nämlich wirklich schwierig – ständig fragt er mich Sachen und die anderen haben schon gesagt: Dadurch, dass der Lehrer ist, weiß der alles besser“. Auf meine Frage, was das konkret bedeutet, zuckt Derrik mit den Achseln und sagt: „Naja, halt Lehrer“. Ich frage mich, ob ich als Lehrer-Kind irgendwas verpasst habe.
Die Behandlung von Derrik gleicht trotz eingangs angedeuteter Lymphdrainagegriffe beim anschließenden Üben dann doch eher einem Tribunal von Kritik am Patienten, Maßnahmen, die an Körperverletzung grenzen und Übungen, die selbst physiotherapeutisch trainierte Personen an Belastungsgrenzen bringt.
Im Nachgespräch höre ich zu meiner Bitte um eine erste Selbstreflexion: Ihm ist hier alles unter seinem Niveau und die Behandlung ist nur deswegen seiner Meinung nach nicht erfolgreich, weil der Patient so schwierig ist. Weitere Selbstreflexion lehnt er ab, "weil das immer so schwer ist"...
Ja, die Betreuung von Lernenden wie Derrik ist eine Herausforderung. Wenn Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden, die für Betreuende nicht nachvollziehbar sind. Erwartungen der Lernenden und die Arbeitsrealität in den Einrichtungen divergiert vielleicht und führt zu Frust und Unverständnis.
Jeder Betreuer im klinischen Unterricht von Lernenden in der Physiotherapie kennt folgende Typen von Lernenden:
Unmotivierte
Übermotivierte
Diskutierende
Vermeider
Unsichere
und Besserwisser.
Jeder dieser Typen braucht ein angepasstes Management und die Frage, was stört mich als Betreuer eigentlich daran genau?
Was braucht ein Lernender wie Derrik von uns und von Anleitern vor Ort? Einen autoritären Ton sowie das Androhen von Konsequenzen und schlechten Noten?
Welche Strategien können wir nutzen, um einerseits individuelles Lernen zu ermöglichen, andererseits aber auch die Unterschiede zwischen unseren Erwartungen und den unterschiedlichen anderen Überzeugungen zu managen?
Und wie können Erwartungen unterschiedlicher Parteien berücksichtigt werden, ohne Professonalität und Loyalität zu riskieren?
Hier kann nur zu Gelassenheit im Umgang mit diversen Vorstellungen und Interessen von Lernenden und Einrichtungen der klinischen Ausbildung geraten werden. Wenn z.B.:
...die theoretischen Inhalte nicht zum klinischem Handeln der Einrichtung passen
...Lernende meinen, sie haben es anders und vielleicht besser gelernt
...die Einrichtung den Anforderungen akademisierter Lehrkräfte nicht genügt
...die Dozenten und ihre Unterrichte den Anforderungen der klinischen Einrichtung nicht entsprechen.
Folgende Fragestellungen können zur Klärung verschiedener Ansprüche und Erwartungen helfen, um situativ, kontextbezogen und individuell zu betreuen:
Welche wichtigen Aspekte von Physiotherapie sind im Kontext einer Praxis-Ambulanz gefragt?
Wie kann ich Lernen bei Lernenden trotz scheinbar fehlendem Verantwortungsgefühl oder mangelnder Selbstreflexion ermöglichen?
Welche guten Gründe existieren aus Sicht eines solchen Schülers für sein Handeln in der jeweiligen beruflichen Situation?
Wie lässt sich Lernen vor den Ansprüchen Derriks und den Kollegen vor Ort begründen und managen?
Derrik wird lernen, dass sein Selbstbild mit dem Fremdbild von ihm divergiert. Dass sein Rollenverständnis unangemessen ist - zu diesem Zeitpunkt, in dieser Situation und mit diesen Personen. Es wird ihm in einer anderen Situation vielleicht von Nutzen sein - wer weiß. Doch die aktuelle Rolle erfordert von uns klare, wenn auch wertschätzende Rückmeldung an Derrik. Sie erfordert eine Bewertung von Fach- UND Personalkompetenz. Und einen Leitfaden zu Reflexionspunkten einer professionellen physiotherapeutischen Behandlung, die alle Kompetenzbereiche umfassen.
Im nächsten Teil dieser Reihe berichte ich von Merle. Sie ist in einer Rehabilitationsklinik eingesetzt und der Typ von Lernende, die oft gemocht werden. Und dennoch erlebt auch sie den Unterschied zwischen Unterricht im Bildungskontext und klinischem Lernen.
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